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Was bedeutet es, eine Krankenkasse zu digitalisieren?

5. März 2019

Franz Helmut Gerhards hat sich als Chief Digital Officer bei der DAK-Gesundheit die digitale Transformation der Krankenversicherung auf die Fahne geschrieben. Auf unserem Gipfel im März bringt er das Thema „Einen GKV-Tanker in ein digitales Kassen-Schnellboot transformieren“ auf die Bühne. Wir waren neugierig und haben ihn vorab dazu befragt, was es bedeutet, eine Krankenkasse zu digitalisieren.

PN: Was sind die speziellen Eigenheiten, wenn es darum geht eine Krankenkasse zu digitalisieren?

FHG: Die erste Besonderheit ist, dass der gesamte Gesundheitssektor in der Digitalisierung ziemlich am Ende der digitalen Revolution steht. Die Digitalisierung nimmt im Umfeld schon enorm Tempo auf und die Krankenkassen sind aufgefordert, sich darauf vorzubereiten. Sie müssen sich darauf vorbereiten, dass Themen wie digitale Disruptionen, agiles Umfeld, technische Innovation, veränderte Kundenbedarfe auch die Krankenkassen erreichen und zwar mit einer zunehmenden Geschwindigkeit. Die zweite Besonderheit ist, dass wir es im Krankenversicherungsbereich mit sensiblen Daten zu tun haben, mit hohen Anforderungen an Datenschutz und Datensicherheit. Auch das macht es nochmal besonders: Dass man eben nicht jede Anwendung, jede App, jede Digitalstruktur adaptieren kann. Und das macht es auch ein bisschen schwierig, sich in digitalen Ökosystemen zu bewegen. Denn an der Stelle muss automatisch mitgedacht werden: Woher kommen die Daten? Wo sind sie gespeichert? Wer darf sie nutzen und wofür? Und es gibt sicherlich noch einen dritten, signifikanten Unterschied: Das ist die rechtliche Regulierung. Die Leistungsangebote, die wir haben, sind nicht frei gestaltbar. Ich kann nicht einfach Angebote kalkulieren, die außerhalb des Sozialgesetzbuches liegen. Das engt das Handlungsfeld nochmal ein.

PN: Was sind die zentralen Ziele, die bei der DAK-Gesundheit mit der digitalen Transformation verbunden werden?

FHG: Wir differenzieren hier: Das Thema Digitale Transformation bezieht sich ja zum einen auf das Unternehmen DAK. Ich als CDO der DAK-Gesundheit habe die Verantwortung, das Gesamtunternehmen zu transformieren. Das hat auf der einen Seite eine sehr starke Innenwirkung, auf der anderen natürlich eine Außenwirkung. Logischerweise haben wir auch unterschiedliche Zielstellungen und Herangehensweisen. Ich bin ein Fan der Forrester-Matrix: Dass man sich zum einen an der Digital Excellence of Operations orientiert. Zum anderen an der Digital Customer Journey im Exzellenz-Bereich. Viele Unternehmen orientieren sich zuerst mal an Prozessen und Strukturen. Und auf der anderen Seite gibt es Unternehmen, die gucken zuerst auf den Kunden. Ich bin ein Fan davon, das miteinander zu verbinden. Eine voll digitale Schnittstelle zum Kunden zu bauen ist die eine Seite. Man verliert aber die Akzeptanz im Unternehmen, wenn diese Kundenprozesse beim Mitarbeiter der DAK wieder aufschlagen, und dann z.B. Formulare ausgedruckt werden. Solche Systemtechnikbrüche machen keinen Sinn. Eine Zielstellung ist also, die Customer Journeys neu zu designen – und zwar horizontal und nicht mehr vertikal in entsprechenden Sektoren und mit entsprechenden Zuständigkeiten. Es wird ein ganzheitliches Kundenerlebnis entstehen. Auf der anderen Seite sind End-to-End-Prozess-Digitalisierungen das erklärte Ziel.
Der andere Punkt in der Zielstellung der Transformation ist die Außenwirkung. Wir wollen unserem Kunden eine voll digitale Schnittstelle zur Verfügung stellen. Wir sehen was auf Plattformen wie z.B. Amazon möglich ist: One-Click-Shopping, Overnight Delivery und vieles mehr. Diese Erfahrungen definieren die Kundenbedürfnisse neu und daran werden wir vom Kunden gemessen. Insofern ist die Frage: Wie stellen wir uns entsprechend im digitalen Ökosystem zu unserem Kunden auf? Das wirkt sich zum einen auf die Kundenbindung aus, zum anderen wollen wir damit eine bessere Kundenversorgung über digitale Angebote generieren. Idealerweise fängt man als Krankenversicherung mit der Kundenversorgung an. An der Stelle sind wir im digitalen Ökosystem schon relativ weit. Wir haben ein breit gefächertes Portfolio an Online-Services und -Angeboten. An den Kundentouchpoints hat der Kunde die Wahl, wie digital er uns möchte. Traditionelle und digitale Kanäle verknüpfen wir über einen Omni-Channel-Management-Ansatz.

PN: Digitalisierung ist ja auch immer ein kultureller Faktor innerhalb eines Unternehmens. Die DAK-Gesundheit hat eigens die Digital Factory ins Leben gerufen, die sich darum kümmert, die Mitarbeiter mit ins digitale Boot zu holen. Wie geht die DAK-Gesundheit das Thema an?

FHG: Meine These dazu lautet: Ich kann nur so weit digitale Initiativen, Services, Produkte, Arbeitsumgebungen ins Unternehmen einbringen, wie der Reifegrad des Unternehmens es zulässt. Einfaches Beispiel: Wir haben im vergangenen Jahr die elektronische Gesundheitsakte Vivy ins Leben gerufen. Wichtig war hier, dass die eigenen Mitarbeiter dieses Produkt gut verstehen und nutzen. Nichts ist schlimmer als dem Kunden ein Produkt anzubieten, das die eigene Mannschaft nicht beherrscht oder nicht versteht.

Wir investieren seit Jahren in den Themenkomplex Social Cooperation. Aktuell führen wir Office 365 ein. Das sind Quantensprünge in der Bedienbarkeit. Die Funktionalitäten sind teilweise ganz andere. 

Das Einführungsmodell ändert sich, statt das Produkt nur bereitzustellen, werden über Patenschaften und Usecases konkrete Anwendungsfelder erprobt und erst dann ausgerollt. Wir müssen frühzeitig vermitteln, was der Sinn solcher Strukturen ist. Und dann sind wir schon angekommen beim Thema vernetztes Arbeiten, agiles Arbeiten. Wir haben 2016 die Digital Factory als Inkubator im Unternehmen gegründet, die über ein Ambassador-Modell, über Satelliten, die wir in den Business-Einheiten anbinden, im Unternehmen vernetzt ist. Wir haben parallel dazu ein relativ breites Kulturprogramm aufgesetzt. Das Ganze muss natürlich einhergehen mit dem Thema Mindset. Agiles Arbeiten ist nicht nur Methodik. Das Hauptthema ist die Veränderung in der Haltung und in den Werten der Zusammenarbeit. Dabei sind Führungskräfte ein ganz entscheidender Motor. Aus meiner heutigen Überzeugung kann ich sagen: Technisch brauchen wir uns keine Gedanken machen, da können wir fast alles. Der Fokus muss darauf liegen, diesen Mindsetshift voranzutreiben.

PN: Durch die Digitalisierung wird gefördert, dass Versicherte immer mehr Daten von sich an die Krankenkasse, an ihre digitale Krankenakte preisgeben. Manche Menschen sehen es mit Sorge, dass sie immer mehr zum gläsernen Menschen werden. Wird versucht diese Leute an Bord zu holen und wenn ja, wie?

FHG: Durchaus. Da gibt es auch mittlerweile auf Seiten der Regierung und damit auch der Regulierung ein Umdenken. Das fängt an mit solchen Zitaten wie dem von Hermann Gröhe vom „Datenschutz zum Datenschatz“ bis hin zum heutigen Gesundheitsminister Jens Spahn, der in seinem Buch „App vom Arzt“ geschrieben hat, „Datenschutz ist was für Gesunde“. Das trifft genau den Nagel auf den Kopf. Das heißt jetzt nicht, wir geben den Datenschutz auf. Sondern man muss das Ganze in die Hoheit des Patienten und des mündigen Bürgers stellen. Das Thema Patientensouveränität ist ein ganz entscheidender Erfolgsschlüssel. Sie können solche Themen nicht durchregulieren und sie können es auch nicht vorschreiben. Wir klären unsere Kunden, aber auch unsere Mitarbeiter sehr breit und umfassend auf. Es ist nicht so, dass wir als Krankenkassen einen Anspruch haben, die Daten des Kunden vollumfänglich zu erhalten oder zu analysieren. Sondern der Eigentümer dieser Daten ist immer der Kunde. 

Das ist auch in der Gesetzeslage so geregelt. Es gibt gerade die Diskussion, ob der Arzt denn eigentlich Arztbriefe, Informationen etc. rausgeben muss. Diese Daten gehören heute schon dem Patienten, dem Bürger. Und der Bürger selbst muss wissen, was kann und will er damit machen. Einfaches Beispiel: Mittlerweile gibt es die ersten Fitnessstudios, die sagen, wir möchten gar keinen Beitrag mehr. Sondern wir hätten gern deine Vitaldaten, die du hier im Studio mit deinem persönlichen Profil bei uns hinterlässt. Daraus können wir weitere Entwicklungs- und Sportprogramme, vielleicht auch Studien, ableiten. So etwas nennt man eigentlich Kommerzialisierung der Daten und muss dem Kunden überlassen bleiben. Es wäre absolut fatal, wenn wir als Krankenkasse hingingen und sagten, wir haben eine Kooperation mit einem Sportstudio und da kannst du hingehen, lieber Kunde, aber dann musst du letztendlich alle Daten abgeben. Das wäre nie unser Geschäftsmodell. Unser Geschäftsmodell ist auch nicht, dass wir alle Daten von unseren Versicherten haben wollen, um sie auszuwerten. Sondern am Ende muss man schauen, dass der Bürger seine Daten in einer Art Datentopf hat, in einer Gesundheitsakte, denn da gehören sie rein. Und der Bürger selbst muss in seiner Souveränität entscheiden können, ob er hierzu gern ein Ernährungsprogramm, ein Beratungsprogramm oder Versorgungsprogramm bekommen möchte. Das ist der Weg, auf den wir uns in Deutschland machen müssen und soweit ich sehe, so langsam auch machen.

PN: Wie steht es derzeit um die digitale Transformation bei der DAK? Können Sie eine Einschätzung geben, wie viel schon geschafft ist und wie viel noch vor Ihnen liegt?

FHG: Wir sind im Oktober 2016 mit der Gründung der Digitalen Fabrik gestartet. Hier ging es zunächst einmal um die üblichen Themen: Wie setzt man ein agiles Team auf? Wie arbeiten wir interdisziplinär? Wie steuern und führen wir solche Teams? Und wir haben 2017 die Digitalisierungsstrategie überführt in eine digitale Roadmap. Daneben verfolgen wir konsequent das Ziel die Unternehmenskultur nachhaltig zu verändern. Das beinhaltet Themen wie die Qualifizierung von Mitarbeitern, Änderung von Zusammenarbeitsformaten und Entscheidungsstrukturen, Abbau von Bürokratie, Führungsmodelle neu denken, Ambidextrie. Wir brauchen auf der einen Seite Spezialisten, die als Scrum Master arbeiten können. Aber wir brauchen auch Mitarbeiter in solchen Teams, die verstehen wie agiles Arbeiten geht. 

Man muss vermitteln, dass auch andere Teams auf eine eigene Ressource zugreifen können und dass eine Führungskraft in dem Moment in so ein Team nicht mehr einfach reinsteuern kann. Wir müssen vermitteln, dass es in agilen Teams andere Steuerungsinstrumente gibt als in einem Wasserfallmodell. 

Diesen Prozess haben wir in 2017 begonnen und ist eben integraler Bestandteil unserer Transformation. Wir haben zunehmend Teams aufgesetzt, die agil arbeiten und die Kunden in die Entwicklung mit einbeziehen – zunächst über ein Panel, dann über eine Community. Dieses Modell haben wir in 2018 ausgerollt. Wir haben mittlerweile Digital Experts in jeder Business-Einheit, die Methodenkompetenz haben, sich aber auch um das Innovationsmanagement kümmern. Das ist ein zweiter Strang, den wir im letzten Jahr ausgerollt haben: Systematisches Innovationsmanagement. Wir führen beispielsweise Bootcamps durch. Aus den Bootcamps wird jeden Tag live im Internet für alle 10.000 Mitarbeiter berichtet. An der Stelle erzeugen wir eben dieses Mindset und Partizipation. Die DAK verfügt mittlerweile über ca. 100 Mitarbeiter, die in agilen Arbeitsmethoden ausgebildet wurden.

Wir haben daneben einen Start-Up-Pitch-Day etabliert. Wir schauen uns genau an, wo unser Business strategische Schwerpunkte oder vielleicht auch Problempunkte hat und laden danach, im Markt gescreened, Start-Ups ganz gezielt ein. Auch solche Start-Up-Pitch-Days laufen bei uns mittlerweile in einer 30-Minuten-Sequenz mit der gesamten Geschäftsleitung. Wir haben in Hamburg einen Co-Working-Space und eine Open-Space-Area, wo Mitarbeiter mit der Digital Factory, zu Innovation Bootcamps, zu Workshops, aber auch zu agilen Entwicklungssprints zusammenkommen. Solche Räume sind dazu da, damit ein Zusammenarbeitsgefühl entstehen kann. Aber wir verstehen Räume auch im Sinne von Freiräumen für die Mitarbeiter: Ein Nine-To-Five-Tag, an dem der Mitarbeiter 500 Fälle abzuarbeiten hat, ist der Tod der Innovation. Wie soll sich ein Mitarbeiter, der daran gemessen wird, dass er seine 500 Fälle abarbeitet, noch an Innovationsworkshops beteiligen oder Ideen einbringen können? Ein Unternehmen muss sich erst dazu durchringen, Ressourcen zur Verfügung zu stellen für agiles Arbeiten, für Digitalisierung und vor allen Dingen auch für das Innovationsmanagement. Die wichtigsten Digitalisierungsinitiativen diskutieren wir in der Geschäftsleitung alle vier Wochen, priorisieren und repriorisieren, schauen uns die KPIs dazu an – auch aus der kulturellen Sicht heraus. 

Die Fortschritte in der digitalen Transformation mess- und darstellbar zu machen ist enorm wichtig. Jedes Jahr führen wir basierend auf einer Null-Messung in 2017 eine Digital-Readyness-Analyse mit den Mitarbeitern durch: Wie sieht der Mitarbeiter die Digitalisierung im Unternehmen? Parallel machen wir entsprechende Befragungen bei unseren Kunden: Wie werden wir momentan in dem Kontext gesehen? Das dient alles dazu, diesen Reifegrad permanent nachsteuern zu können. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, weil wir natürlich auch in der Belegschaft seit Jahren/Jahrzehnten gelebte Muster haben. Wir fahren mehr und mehr ein hybrides Unternehmensmodell. Wir haben Bereiche, die auch zukünftig traditionell arbeiten. In anderen Bereichen geht es nur mit Agilität. Diesen Mix hinzubekommen, ist schon spannend.

PN: Welche großen Ziele stehen als nächstes auf der Agenda?

FHG: Wir verfolgen ambitionierte Ziele und wollen langfristig Deutschlands bester Krankenversicherer werden. Die Chancen aus der Digitalisierung werden wir konsequent nutzen, um unseren Kunden ein Leben lang zur Seite zu stehen, sei es um gesund zu bleiben oder bei Krankheit/Pflege individuelle Lösungen zu finden. Dazu werden wir konsequent die digitalen Touchpoints ausbauen. Wir sind auch überzeugt davon, dass die Digitalisierung ein enormes Potential hat, die medizinische Versorgung weiterzuentwickeln. Hier werden wir weiter am Ausbau unseres digitalen Ökosystems mit Patientenakte und digitalen Versorgungsstrukturen arbeiten.

Am 25./26. März treffen Sie Herrn Gerhards auf unserem Strategiegipfel IT & Information Management in Berlin. Das ganze Programm im Überblick & alle Infos zum Event:

IT & Information Management

Vielen Dank für das Interview, Herr Gerhards!